Sonntag, 9. September 2012

Mangelnde Lesekompetenz in der EU: Mitgliedstaaten müssen handeln

Die Europäische Union muss ihre Politik zur Anhebung des Alphabetisierungsniveaus überdenken, so eine hochrangige Gruppe von Sachverständigen, die EU-Kommissarin Androulla Vassiliou mit der Untersuchung dieses Themas beauftragt hatte. 

Jedem fünften Jugendlichen im Alter von 15 Jahren und nahezu 75 Millionen Erwachsenen fehlt es an grundlegenden Lese- und Schreibfertigkeiten; das erschwert ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt und erhöht das Risiko, in Armut abzusinken und aus der Gesellschaft herauszufallen.

Ratschläge. Der 80 Seiten starke Bericht enthält ein breites Spektrum an Ratschlägen: Diese reichen vom Ratschlag an die Eltern, Lesen in der Familie als Freizeitbeschäftigung zu kultivieren, über den Vorschlag, Bibliotheken an ungewöhnlichen Orten einzurichten (etwa in Einkaufszentren), bis hin zur Forderung, mehr Männer für den Lehrberuf zu gewinnen, die dann als Vorbilder für Jungen fungieren können, die sehr viel weniger lesen als Mädchen. Weiter werden spezifische Empfehlungen für bestimmte Altersgruppen vorgelegt: allgemeine und kostenlose hochwertige frühkindliche Betreuung, Bildung und Erziehung, mehr speziell für den Leseunterricht ausgebildete Lehrkräfte an Grundschulen, eine veränderte Einstellung zu Lese- und Schreibstörungen (Legasthenie) aufgrund der Annahme, dass fast jedes Kind mit geeigneter Förderung lesen lernen kann, sowie vielfältigere Lernmöglichkeiten für Erwachsene, insbesondere am Arbeitsplatz.

Androulla Vassiliou, EU-Kommissarin für Bildung, Kultur, Mehrsprachigkeit und Jugend, erklärte: „Wir befinden uns in einer paradoxen Situation: Lesen und Schreiben sind in unserer digitalisierten Welt wichtiger und relevanter denn je, aber unsere Lese- und Schreibkompetenz hält nicht Schritt mit dieser Entwicklung. Hier müssen wir dringend gegensteuern. Investitionen zur Verbesserung der Lese- und Schreibkompetenzen von Menschen jeden Alters sind wirtschaftlich sinnvoll – sie schaffen konkrete Vorteile für den Einzelnen und die Gesellschaft insgesamt, die sich langfristig gesehen zu Milliardenbeträgen summieren."

Der Bericht wurde von der zyprischen EU-Präsidentschaft auf einer Konferenz in Nikosia vorgestellt. Er enthält Beispiele erfolgreicher Projekte zur Förderung der Lesekompetenz, die in den EU-Ländern durchgeführt werden, und Einzelporträts von Menschen, die das Stigma des Analphabetentums überwunden und ihrem Leben eine neue Richtung gegeben haben. Auch räumt der Bericht mit einigen weitverbreiteten Vorurteilen zur Lese- und Schreibkompetenz auf.

Ziele. Die EU-Bildungsminister haben sich das gemeinsame Ziel gesetzt, den Anteil der leseschwachen 15-Jährigen bis 2020 von derzeit 20 Prozent auf 15 Prozent zu senken. Der Bericht der hochrangigen Sachverständigengruppe weist auf einen deutlichen geschlechtsspezifischen Unterschied hin: So liegt der Anteil der leseschwachen Jugendlichen bei den Mädchen bei durchschnittlich 13,3 Prozent, bei den Jungen dagegen bei 26,6 Prozent. Am geringsten ist der geschlechtsspezifische Unterschied in den Niederlanden, Dänemark und Belgien, am größten in Malta, Bulgarien und Litauen (Datengrundlage: 2009).

Dem Bericht zufolge sind Lese- und Schreibfertigkeiten so wichtig, weil:

  • der Arbeitsmarkt eine immer höhere Kompetenz verlangt (bis 2020 dürften 35 Prozent aller Arbeitsstellen ein sehr hohes Qualifikationsniveau erfordern, derzeit sind es nur 29 Prozent);
  • sich die soziale und gesellschaftliche Teilhabe an der digitalen Welt stärker auf die Lese- und Schreibkompetenz stützt;
  • die Bevölkerung zunehmend älter wird und Lese- und Schreibfähigkeiten, darunter digitale Kompetenz, an den Fortschritt angepasst werden müssen;
  • Armut einerseits und Lese- und Schreibdefizite andererseits einen Teufelskreis bilden;
  • Lese- und Schreibkompetenz durch zunehmende Mobilität und Migration eine mehrsprachige Komponente gewinnen, die eine große Bandbreite kultureller und sprachlicher Kontexte umfasst.


Kommissarin Vassiliou wird die Ergebnisse des Berichts am 4./5. Oktober auf einer informellen Tagung in Zypern mit den Bildungsministern erörtern. Die Debatte bildet dann die Grundlage für Schlussfolgerungen des Rates zu Lese- und Schreibkompetenz; darin werden die EU-Länder sich selbst und der Kommission prioritäre Ziele setzen, wie Lese- und Schreibdefizite wirksamer ausgeglichen werden können.

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10.9.12  [Letzte Aktualisierung  10.9.12] Das Vorarlberger Bloghaus verlinkt interessante Weblogs.

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